Arbeitskämpfe im 21. Jahrhundert - Zwischen politischer Aufklärung und sozialmedialem Influencing
Diskussionsveranstaltung mit Wolfgang M. Schmitt
Der schuldbewusste abendliche Applaus für das überlastete Pflegepersonal während der Corona-Pandemie. Das Gefühl des tiefen Respekts und der Dankbarkeit gegenüber denjenigen, die auch in anderen sog. „systemrelevanten“ Jobs (z. B. Einzelhandel, Paket- und Essenszustellung, Sicherheit, Bildung und Erziehung sowie reinigungsbezogenen, körpernahen und sanitären Dienstleistungen), trotz der Gefahr für Leib und Leben, weiter ihre Arbeit gemacht haben. Und nicht zuletzt die Angst vor „anomischen“ Zuständen (Durkheim, vgl. Hedges, 2018), die im Zuge von Krieg, Flucht und Pandemie sogar auf unserer „Insel der Seligen“ deutlich spürbar wurde.
All diese Erfahrungen, Wahrnehmungen und Emotionen haben in der Bevölkerung das Bewusstsein um die gesellschaftliche Notwendigkeit einer Verbindung von öffentlicher und sozialer Sicherheit gestärkt.
Und dennoch verzeichnen wir im post-pandemischen Deutschland die höchsten Reallohnverluste seit 2008. Dabei sind höhere Löhne nicht die einzige Forderung, die von Aktivist:innen und Gewerkschaften artikuliert wird. Viele möchten vor allem mehr Freizeit – die 4-TageWoche ist besonders für junge Menschen attraktiv. Die Gleichzeitigkeit der Diskurse ist bemerkenswert: Zum einen diskutiert man das Verschwinden der Arbeit durch künstliche Intelligenz, zum anderen fürchtet man eine junge Generation, die weniger und dabei vor allem humaner arbeiten will.
Und übersehen wird dabei, dass die eigentlich gesellschaftlich notwendige Arbeit in der immer noch wachsenden und von der Klimakatastrophe existenziell bedrohten Weltbevölkerung zunimmt und nicht durch technische Errungenschaften minimiert werden kann. Zwar ist allenthalben von Selbstverwirklichung und Empowerment die Rede, doch die Lebenswirklichkeit der meisten abhängig Beschäftigten bzw. prekären Selbstständigen in Deutschland – und vor allem überall woanders auf der Welt (Milanovic, 2019; Gray & Suri, 2019; vgl. Weingärtner, 2021) – hat damit rein gar nichts zu tun.
Und auch ein weiteres Faktum ist heute kaum mehr zu ignorieren oder gar zu leugnen: In Zeiten der „Polykrise“ des Kapitalismus (Adam Tooze) sitzen wir mittlerweile global „in einem Boot“. In Europa sonnen wir uns noch – um mehr schlecht als recht im Bild zu bleiben – auf dem Oberdeck eines Kreuzfahrtschiffs, das bisher nur sehr bedingt für die historischen Herausforderungen der Menschheit seetauglich ist (vgl. Khanna, 2021; vgl. auch den preisgekrönten Film „Triangle of Sadness“, 2022).
Ob wir nun wollen oder nicht, sind wir alle in der modernen arbeitsteiligen Gesellschaft voneinander abhängig. Konkreter: Wir sind davon abhängig, dass eine für uns nicht überschaubare Anzahl und Diversität von Menschen auf der ganzen Welt, mal mehr und mal weniger freiwillig, mit ihrer Arbeit an einer avancierten Form „organischer Solidarität“ (Durkheim) partizipiert, die uns, zumindest noch in großen Teilen Europas, seit dem zweiten Weltkrieg eine menschenwürdige und weitgehend angstfreie Existenz ermöglicht (hat).
Um nicht mehr und nicht weniger wird es in unserer Diskussionsveranstaltung mit Wolfgang M. Schmitt (Buchautor, Filmkritiker, YouTuber und Podcaster), Simon Weingärtner (Wirtschafts-, Arbeits- und Organisationssoziologe, LUH Hannover) und nicht zuletzt Euch (per „Mentimeter“®, Chat und/oder „Fishbowl“) gehen.
Wir fragen unter anderem:
- Welche Rolle spielen Arbeitskämpfe heute, vor dem Hintergrund eines überall auf der Welt gewachsenen Bewusstseins über die fundamentale Ungerechtigkeit sowie das absehbare ökologische und humanitäre Scheitern des sog. westlich-„liberalen“ Modells der kapitalistischen Wirtschaftsweise?
- Was gilt in unserer Gesellschaft als „notwendige“ bzw. gute, d.h. vor allem: gut bezahlte und sozial anerkannte Arbeit und was nicht? Und warum eigentlich?
- Welche Rolle spielen soziale Medien und Algorithmen im Arbeitsprozess, d.h. in der Proliferation und Distribution menschlicher und künstlicher Intelligenz bzw. „künstlicher Kommunikation“ (Esposito, 2022; Nassehi, 2019)?
- Wie können Gewerkschaften, Betriebs- und Personalräte die sozialmediale Ökonomie der Aufmerksamkeit (besser) für die Belange des „arbeitenden Souveräns“ (Honneth, 2023) – also unsere kollektiven Belange als Menschheit – nutzen?
Und nicht zuletzt:
- Wie können wir eine sozial-ökologische, digital vernetzte Arbeitsgesellschaft denken, in welcher der Mensch weiterhin im Mittelpunkt steht und der Beitrag einer und eines jeden Einzelnen zur Aufrechterhaltung, Weiterentwicklung und zum Schutz unseres Gemeinwohls sowie unserer natürlichen Lebensgrundlagen endlich angemessen wahrgenommen, wertgeschätzt und belohnt wird?
Referenzen
Durkheim, E. (2022 [1896]). Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Esposito, E. (2022). Artificial communication: How algorithms produce social intelligence. ideas series. Cambridge, Massachusetts: The MIT Press.
Film “Triangle of Sadness” (2022) von Ruben Östlund
Gray, M. L. & Suri, S. (2019). Ghost work. How to stop Silicon Valley from building a new global underclass. Boston [etc.]: Houghton Mifflin Harcourt.
Hedges, C. (2018). America: The Farewell Tour. New York: Simon & Schuster.
Honneth, A. (2023). Der arbeitende Souverän. Eine normative Theorie der Arbeit. Berlin: Suhrkamp Verlag.
Khanna, P. (2021). Move. Das Zeitalter der Migration. Hamburg: Rowohlt.
Milanović, B. (2019). Capitalism, alone. The future of the system that rules the world. Cambridge, Massachusetts: The Belknap Press of Harvard University Press.
Nassehi, A. (2019). Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. München: C.H. Beck.
Weingärtner, S. (2021). Prekarisierung und soziale Resilienz. Aktuelle Veröffentlichungen zu Ursachen und Folgen des globalen Strukturwandels von Arbeitsmärkten. Soziologische Revue, 44(4), 563–581.